Mein zweites größeres Ziel in Bosnien und Herzegowina ist der Pilgerort Medjugorje im Süden des Landes. Seit über 30 Jahren soll hier Maria, die Muttergottes, regelmäßig erscheinen und einer kleinen Gruppe von Sehern ihre Botschaften für die Menschheit mitteilen. Der Vatikan prüft seit längerem eine Anerkennung zum Wallfahrtsort, doch davon lassen sich jährlich 2,5 Millionen Pilgerer aus aller Welt nicht irritieren. Und so mache auch ich mich auf den Weg in das kleine Städtchen mit den beiden heiligen Bergen.
Bereits einige Kilometer vor Medjugorje ändert sich meine Wahrnehmung. Ein Gefühl von Frieden und Entspannung steigt in mir auf, obwohl die karge Berglandschaft dafür keinerlei Anlass zu geben scheint. Der objektiv betrachtet eher unspektakuläre Ort wirkt wie in ein besonderes Licht getaucht und verströmt eine unglaublich friedliche und weiche Atmosphäre. Ich entscheide mich zuerst für den Austieg zum Kreuzberg, den Kreuzweg. Die 14 Stationen des Leidenwegs Jesu Christi sind hier in meinem Verständnis äußerst anspruchsvoll umgesetzt. Der Weg ist sehr steil und extrem steinig, was jede Station zur persönlichen Herausforderung werden lässt.
Hier wird mir in meditativer Selbsterfahrung die metaphorische Bedeutung dieses historisch christlichen Ereignisses klar. Jede Station erweckt in mir retrospektiv Bilder meines bisherigen Lebens. Besonders das Aufladen des Kreuzes, welches im übertragenen Sinne als das Annehmen des eigenen Schicksals und der Orientierung auf den Bestimmungsweg versinnbildlicht werden kann, verändert meine innere Einstellung zum Leben in stark berührender Weise. Auf dem Gipfel, der Station der Auferstehung, angekommen löst sich in mir plötzlich ein emotionaler Stau und alles beginnt zu fliessen, inklusive Tränen. Ich habe noch nie an einem Ort so viele Menschen freudvoll und erleichtert weinen sehen.
Den Weg auf den zweiten heiligen Berg, den Erscheinungsberg, entscheide ich barfuß zu gehen. Das nimmt zwar deutlich mehr Zeit in Anspruch, vertieft aber in meinem Empfinden das bewusste Erleben um ein Vielfaches. Andere Pilger zollen mir dafür staunend ihre Anerkennung, bis hin zu Vermutungen, dass ich diese unbequeme Art des Aufstiegs vielleicht als angehender Priester gewählt hätte. Das „Ave Maria“, welches ich währenddessen immer wieder für mich spreche, verstärkt meine Verbindung zur Muttergottes spürbar. Angekommen an der Gifpelstatue fühlt es sich für mich wie ein Loslösen von der leiblichen und ein Einlassen auf die göttliche Mutterkraft an.